Astrid Lincke-Zukunft,
Blickwechsel–Wechselblick
Ausstellung im Kunstverein Speyer 2009
Astrid Lincke-Zukunft hat sich von ihren frühen Zeichnungen bis zu ihren heutigen Stabplastiken, die man aufgrund ihrer linearen Struktur auch als Zeichnungen im Raum ansprechen könnte, mit dem Thema der Verwandlung beschäftigt, das sich wie ein roter Faden durch ihr Werk zieht.
Ihre hier gezeigten Stabplastiken sind »entmaterialisierte« Raumobjekte aus dünnen Holz- oder Metallstäben, allseitig offene und bewegte räumlich-lineare Formgebilde von schwebender Leichtigkeit. Sie basieren nicht auf einem konstruktiven Denken.
Es gibt zu den Arbeiten weder Entwürfe noch Berechnungen. Die Künstlerin handhabt ihre Materialien und Formen intuitiv, der Entstehungsprozess der Arbeiten verläuft nicht analytisch, sondern imaginativ.
Der Raum in ihren aus richtungsgebenden Elementen konstituierten Plastiken ist kein Ort, sondern Bewegungsmotiv und Ausdruck der ständigen Verwandlung von ich und Welt. Ihre Plastiken haben keinen Mittelpunkt, sind für alle Perspektiven offen und unterlaufen auch durch ihre ungewöhnliche Platzierung vor der Wand den Schematismus des alltäglichen Sehens. Mit jedem Schritt des Betrachters kommt es zu Perspektivverschiebungen, die neue optische Formverbindungen und Raumeindrücke generieren. An der Stelle eines punktuellen Sehens tritt ein aktives und bewegtes Sehen, dessen Ablauf der Betrachter selbst bestimmt. Dabei macht er die Erfahrung, dass er mit dem Sehen nie an ein Ende kommt.
Durch den Schattenwurf erhalten die Plastiken eine zusätzliche räumliche Dimension; als fließendes Element deutet der Schatten aber auch auf das Vergängliche hin und auf das Metaphysische jenseits von Material und Form. Der Verzicht auf Volumen und Figur und die Thematisierung von Raum und Zeit verweisen auf Transitorisches und Transzendentes.
Die Werke von Astrid Lincke-Zukunft widersetzen sich der logischen Erklärung. Die paradoxen Konstruktionen verunsichern den Blick und halten ihn in Bewegung. Die gegenläufigen Linien und Überschneidungen schaffen labyrinthisch verwinkelte Raumzusammenhänge ohne Anfang und Ende, die Assoziationen an kafkasche Räume wecken.
Astrid Lincke-Zukunfts Plastiken spielen mit optischen Irritationen, die der Betrachter durch seine wechselnden Standpunkte und Blickwinkel selber erzeugt, auch mit der Verwirrung, die die scheinbar vertraute Ordnung in Frage stellt. Im paradoxen Verhältnis von Klarheit und Komplexität ist das widersprüchliche der menchlichen Existenz enthalten. Die Werke von Astrid Lincke-Zukunft sind gleichsam Metaphern menschlicher Erfahrung. Sie können als ein Instrument der Zeitdiagnose inmitten des beschleunigten Komplexitätswachstums der ruhelosen Moderne angesehen werden. Mit ihrem künstlerischen Schaffen stellt sich Astrid Lincke-Zukunft der zeitgenössischen Kunst, die die Beteiligung des Betrachters nicht nur einfordert, sondern auch praktiziert.
Prof. Dr. Herbert Dellwing